7. 6. 2025

Was kann ich wissen?

 

Wie lauteten eigentlich nochmal Kant's Kernsätze? Diese Frage ging mir heute morgen überraschenderweise durch den Kopf. Bei Google leicht zu finden: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was kann ich hoffen? Was ist der Mensch? Fragen, die mich auch beschäftigen, obgleich ich weit entfernt von Immanuel Kant's Geistesgröße bin. Für mich dann passend der Google-Hinweis: Ki-Antworten können Fehler enthalten. Wie menschlich. 


Bei der Frage nach dem Wissen, drängt sich mir seit geraumer Zeit allerdings eher die Frage auf: Was dürfen wir alles nicht wissen? So bewege ich mich bei meiner Wissensbeschaffung auch auf Abwegen zu den freien Medien. Die Plattform (Anti-Spiegel.ru) von Thomas Röper, der in dem 16. Sanktionspaket auch bedacht wurde, weil er u.a. russische Propaganda verbreitet, suche ich gerne auf, weil er z.B. Reden von Putin oder Lawrow übersetzt. Vor kurzem hat er einen Text von Glenn Diesen übersetzt, den ich ähnlich wie Thomas Röper, hin und wieder auf seinem Youtube Kanal anklicke. Er interviewt interessante Persönlichkeiten, die über ein gewisses Fachwissen verfügen, wie z. B.ehemalige Botschafter oder Professoren, die ihre eigene Interpretation der Weltlage haben. In dem übersetzten Artikel geht es um Glenn Diesen selbst und um 'den Norweger'. Ich werde ihn hier ausnahmsweise komplett übernehmen, weil Diesen seine persönlichen Erfahrungen sehr komprimiert darstellt und gleichzeitig die norwegische Gesellschaft kritisch analysiert. Es ist erschreckend und ich kann nur froh sein, dass es in Deutschland nicht so ist. Oder?


Warum Russland böse sein muss

Ein wissenschaftlicher Blick auf die Techniken der Propaganda

Propaganda ist eine Wissenschaft, die der Westen traditionell besser beherrscht als der Rest der Welt. Ein norwegischer Professor hat in einem lesenswerten Artikel erklärt, wie Propaganda funktioniert, warum sie so effektiv ist und warum der Westen Russland als böse darstellen muss.

von Anti-Spiegel

4. Juni 2025 06:59 Uhr

Eines meiner Steckenpferde ist die Funktionsweise Propaganda-Techniken und wie sie wirken. Leider komme ich wegen der schier unendlichen Flut internationaler Meldungen und Krisen in letzter Zeit nicht oft dazu, mich um dieses Thema zu kümmern und die Wirkungsweise und die Tricks der Propaganda aufzuzeigen.

Vor einiger Zeit bin ich Professor Glenn Diesen gestoßen, der das Thema sehr verständlich behandelt. Professor Diesen ist Norweger und lehrt an einer norwegischen Universität, er wird als pro-russisch kritisiert, weshalb seine Artikel keine weite Verbreitung im Westen finden. Ich habe Anfang April schon einen sehr interessanten Artikel von ihm zu dem Thema übersetzt.

Nun hat er einen neuen, sehr langen – aber unglaublich interessanten – Artikel darüber veröffentlicht, „wie das friedensorientierte Norwegen lernte, den Krieg zu lieben“, der aus meiner Sicht fast zu hundert Prozent auch für Deutschland zutrifft, weshalb ich diesen Artikel ebenfalls übersetzt habe.

Beginn der Übersetzung:


Wie das friedensorientierte Norwegen lernte, den Krieg zu lieben

von Glenn Diesen

Norwegen sieht sich selbst als Modellnation: liberal, tolerant und friedensorientiert. Doch es hat sich eine kollektive Denkweise entwickelt, die von tiefem Misstrauen und Verachtung gegenüber jedem geprägt ist, der von den offiziellen Wahrheiten und Kriegsnarrativen der Regierung abweicht.

Hier ist ein soziales Experiment, um die obige Behauptung zu prüfen. Ich bin Professor für Politikwissenschaft, zugleich aber auch Politiker und kandidiere für das norwegische Parlament. Meine kürzlich gegründete Partei ist im Kern eine Antikriegspartei. Wir lancierten eine Plakatkampagne im öffentlichen Nahverkehr in Oslo. Die zentrale Botschaft lautete: Wir sind für Verhandlungen und gegen Waffenlieferungen für den Krieg in der Ukraine.

Diese Position erschien uns vernünftig, zumal Norwegen bis 2022 eine Politik verfolgte, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, weil das eskalierend wirkt und Norwegen womöglich zur Konfliktpartei macht. Mein Land setzte sich einst für Diplomatie und Verhandlungen als Weg zum Frieden ein. Dieses Prinzip hat Norwegen inzwischen aufgegeben und in das neue Mantra „Waffen sind der Weg zum Frieden“ eingestimmt. Gleichzeitig boykottiert Norwegen seit über drei Jahren jegliche grundlegende Diplomatie mit Russland, und dies zu einer Zeit, in der Hunderttausende junge Männer in Schützengräben sterben.

Mit der Plakatkampagne stellten wir die Frage, ob unser friedensorientiertes Land bereit ist, zumindest das Argument zu debattieren, dass es zu seiner früheren Politik der Verhandlungen zurückkehren sollte, anstatt den Krieg gegen die größte Atommacht der Welt mit immer mehr Waffen weiter anzuheizen.

Das Land hat stattdessen kollektiv den Verstand verloren. Zahlreiche Politiker bezeichneten die Plakatkampagne als gefährliche russische Einflussoperation. Man warf mir vor, ich hätte mich auf die Seite Russlands geschlagen und den Einmarsch in die Ukraine unterstützt. Ich sei ein russischer Agent, der Propaganda verbreite. Es wurde schließlich gefordert, dass sich die Nachrichtendienste einschalten, weil ich mutmaßlich vom russischen Staat finanziert werde. Kurz darauf versicherte der nationale Geheimdienst PST der Öffentlichkeit, dass man „Personen überprüfe, die möglicherweise im Auftrag fremder Mächte versuchen, die norwegische Bevölkerung gegenüber der Politik der Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch einzustimmen.“

Fast alle Medien des Landes berichteten über das Thema unter der Prämisse:, ich sei „pro-russisch“ und „anti-ukrainisch“. Die Plakate wurden heruntergerissen und einige verglichen ihren politischen Vandalismus mit der Befreiung des Landes von Hitler im Zweiten Weltkrieg. Meine Mitbürger traten in einen Rausch von Selbstgerechtigkeit und moralischer Überlegenheit ein und vereinten sich im Zeichen der Tugend und im Kampf für die Freiheit. Der Hass auf das „böse Andere“ wurde als Beweis für die eigene Rechtschaffenheit gefeiert – als Widerstand gegen uns, angebliche faschistische Agenten Russlands, die die Zerstörung der Ukraine unterstützten und Europa an Russland ausliefern wollten.

An dieser Stelle sei betont: Ich betrachte mich als Freund der Ukraine. Ich warne seit über 20 Jahren vor einem Krieg in der Ukraine und habe den Einmarsch selbstverständlich nicht unterstützt. Ähnlich wie viele politische Führungspersonen im Westen in den vergangenen 30 Jahren argumentierten, bin ich überzeugt, dass die NATO-Erweiterung erst ein Sicherheitsdilemma auslöst und schließlich einen Krieg. Genauso wäre es im Fall, wenn Russland militärische Infrastruktur in Mexiko aufbaute. Mein Argument lautet: Russland sieht in der NATO-Erweiterung eine existenzielle Bedrohung und handelt auf Grundlage dieser Überzeugung – unabhängig davon, ob die NATO diese Bedrohungswahrnehmung teilt. Deshalb plädiere ich für Diplomatie und gegen Waffenlieferungen, weil diese den Krieg nur weiter eskalieren, die Ukraine vollends zerstören und uns näher an einen Atomkrieg bringen.

Ich betrachte das – um es in der Sprache meiner Landsleute zu sagen, denen Argumente über die Dynamik bei geopolitischen Sicherheitsüberlegungen egal sind – als eine pro-ukrainische und pro-westliche Haltung. Es sei daran erinnert: Unser Premierminister sagte nach dem russischen Einmarsch, es sei „völlig ausgeschlossen“, Waffen zu liefern. Diese Position wurde seither kriminalisiert und gilt nun als Merkmal russischer Agenten.

Ich musste feststellen, dass meine Haltung nicht „anti-russisch“ genug ist, weil ich die zerstörte Sicherheitsarchitektur als Ursache des Krieges sehe. Die öffentliche Debatte in Norwegen ist auf primitive Loyalitäten reduziert worden – man muss sich für eine Seite entscheiden. Die norwegische Gesellschaft duldet nur Argumente, die auf der Annahme beruhen, dass wir keinerlei Mitschuld tragen und unsere Solidarität mit der Ukraine darin besteht, den „Anderen“ zu verurteilen. Das Narrativ vom „nicht provozierten Angriffskrieg“ ist daher sakrosankt. Die eigene nationale Sicherheit zu erhöhen, indem man den Sicherheitskonflikt mit Russland entschärft, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, weil man über russische Sicherheitsinteressen nicht sprechen darf. Krieg wird so auf vorhersehbare Weise zum einzigen Weg zum Frieden.

Die politische Kampagne führte zu einer im Fernsehen übertragenen öffentlichen Debatte, in der unsere ehemalige Verteidigungs- und Außenministerin als Gegenpartei zu uns auftrat. Das Ganze erinnerte mehr an eine Trash-Talkshow im Nachmittagsprogramm als an eine sachliche Auseinandersetzung. Ihre Taktik bestand darin, herablassend zu sein und mich als russischen Propagandisten zu beschimpfen. Alles, was einem Argument ähnelte, beruhte auf der Prämisse, ich sei „pro-russisch“, während die Regierung „pro-ukrainisch“ sei. Mein Widerspruch wurde auf diese Weise zu einer Bedrohung der nationalen Sicherheit erklärt. Es war nie das Ziel zu diskutieren, ob Russland ein Imperium anstrebt oder auf eine aus seiner Sicht existenzielle Bedrohung reagiert – und schon gar nicht, ob Waffenlieferungen und der Boykott der Diplomatie zum Frieden führen.

Schließlich kam die Presse – als verlängerter Arm der Regierung – ins Spiel, um die TV-Debatte einem „Faktencheck“ zu unterziehen. Oder besser gesagt: Die Medien überprüften ausschließlich meine Aussagen, während die offensichtlichen Unwahrheiten der ehemaligen Verteidigungs- und Außenministerin unkommentiert blieben. Die sogenannten „Faktenchecker“ betätigten sich eher als Bewahrer des Narrativs, denn man warf mir vor, ich würde mehrere Argumente vorbringen, „die zu den wichtigsten russischen Narrativen über den Ukraine-Krieg passen“.

Die unehrlichen unter den norwegischen Medien hingegen prüften nicht irgendwelche Fakten, die meine Argumente hätten stützen können, sondern suchten sich eine einzige mehrdeutige Quelle heraus, um meine Aussagen als unglaubwürdig darzustellen. 

Zum Beispiel argumentierte ich, Boris Johnson habe das Istanbuler Friedensabkommen im Auftrag der USA und Großbritanniens sabotiert. Eine Zeitung zitierte lediglich den ukrainischen Unterhändler David Arachamia als ambivalente Quelle. Warum wurden nicht auch die anderen Beteiligten an den Verhandlungen zitiert – der türkische Außenminister und Präsident Erdoğan oder der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett –, die bestätigten, dass die Verhandlungen sabotiert wurden, um die Ukrainer in einem Stellvertreterkrieg zur Schwächung eines strategischen Rivalen zu benutzen? Warum wurde nicht der frühere Chef der Bundeswehr, General Kujat zitiert, der genau dasselbe sagt? Warum gab es keine Verweise auf US-amerikanische oder britische Politiker, die offen einen Regimechange in Moskau als einzig akzeptables Ziel formulierten? Warum wurde Boris Johnson selbst nicht zitiert, der seine Ablehnung gegenüber Verhandlungen ausdrückte und vor einem „schlechten Frieden“ warnte?

Die ehrlicheren unter den norwegischen Medien hatten immerhin den Anstand, die von mir vorgebrachten Fakten zu veröffentlichen, doch auch sie konnten es nicht lassen das Wasser zu trüben. Ich sagte etwa, dass dem Westen bewusst ist, dass er 2014 den Regierungsumsturz in Kiew unterstützt und damit die NATO-Osterweiterung vorangetrieben hat, obwohl ihm klar war, dass nur eine Minderheit der Ukrainer – etwa 20 Prozent – einen NATO-Beitritt befürwortete und dass diese Osterweiterung wahrscheinlich zum Krieg führen würde.

Da man diese Fakten nicht bestreiten konnte, behaupteten die Faktenchecker, die Ukrainer seien über den Zweck der NATO schlecht informiert gewesen und Opfer von Propaganda geworden und verwiesen darauf, dass nach dem russischen Einmarsch die Mehrheit nun für einen Beitritt zur NATO sei. Diese Behauptung hat jedoch rein gar nichts mit meinem Argument zu tun, dass man bereits 2014 wusste, wie die Stimmung in der Ukraine war und dennoch auf Eskalation setzte. Alle „Faktenchecks“ dienten letztlich einzig der Delegitimierung der Fakten.

In Norwegen hat die rationale Überlegung des Individuums die Debatte gegen das kollektive Denken und den Gruppenzwang verloren. Die Politik und die Kriegsnarrative der Regierung gelten als Tugend und Wahrheit, und jeder Widerspruch dagegen ist somit unmoralisch und irreführend. Die Prämisse jedes Arguments von Politikern und ihren Stichwortgebern aus den Medien lautet: Sie stehen auf der Seite des unschuldigen ukrainischen Opfers, ich hingegen verkörpere den bösen russischen Aggressor. 

Es besteht keinerlei Interesse an Argumenten, vielmehr herrscht eine Obsession, die angeblich verborgenen bösen Absichten der Gegenseite zu entlarven. Zu diesem Zweck ist im „guten Kampf“ alles erlaubt. Der nationale Geheimdienst warnte, mit einem unverhohlenen Hinweis in meine Richtung, man beobachte Bestrebungen, die norwegische Gesellschaft zu polarisieren. Es sei nicht nur völlig inakzeptabel, dass ich als angeblicher Putin-Vertreter ins Parlament einziehe, auch meine Anstellung als Professor an einer norwegischen Universität sei problematisch, da ich „russische Narrative verbreite“. Wie konnte Norwegen dermaßen autoritär und kriegsbegeistert werden?

Der progandisierte Norweger

Ich möchte hier über „den Norweger“ schreiben, über das kollektive nationale Bewusstsein, das dazu dient, das rationale Individuum zu überwältigen. Bereits Sigmund Freud erkannte, dass das Individuum rational ist, wenngleich das Individuum auch von einer irrationalen Gruppenpsychologie beeinflusst wird. Seit jeher organisieren sich Menschen in Gruppen, um Sicherheit und Sinn zu finden. Sich einer Gruppe anzupassen, ist einer der dominierenden Instinkte der menschlichen Natur. 

Carl Jung schrieb dazu über die Grenzen der Vernunft: „Der freie Wille existiert nur innerhalb der Grenzen des Bewusstseins. Jenseits dieser Grenzen herrscht bloßer Zwang.“

Das zentrale Element der Gruppenpsychologie besteht darin, Individuen in ein „wir“ – die eigene Gruppe – und in „die anderen“ – die fremde Gruppe – zu spalten. Wenn Menschen mit Unsicherheit und Angst konfrontiert werden, neigen sie instinktiv dazu, innere Geschlossenheit zu suchen und die fremde Gruppe abzulehnen. Deshalb gedeihen autoritäre Tendenzen besonders gut unter Bedingungen der äußeren Bedrohung.

Die Literatur über politische Propaganda stammt in erster Linie von Edward Bernays, dem Neffen von Sigmund Freud, und baute auf der Arbeit seines Onkels auf. Bernays erkannte, dass das Manipulieren der Stereotypen, die das „uns“ und „die anderen“ ausmachen, die Bedeutung objektiver Realität und die Überlegungen des rationalen Individuums verdrängt: Wenn „wir“ militärische Gewalt einsetzen, dann geschieht das für die Freiheit; wenn unsere Gegner – „die anderen“ – exakt dasselbe tun, dann geschieht es zur Erweiterung eines Imperiums oder zur Zerstörung der Freiheit.

Der Kern der Propaganda besteht somit darin, die Welt als Kampf zwischen Gut und Böse sowie als Auseinandersetzung zwischen Überlegenen und Unterlegenen darzustellen. Die westliche politische Propaganda, in der die Welt früher als ein Gegensatz zwischen Zivilisierten und Barbaren dargestellt wurde, wird heute als Kampf zwischen liberaler Demokratie und Autoritarismus inszeniert. Sobald die Öffentlichkeit dieses Grundprinzip akzeptiert, wird die Komplexität der Welt so stark vereinfacht und verdummt, dass abweichende Meinungen als unmoralisch und gefährlich gelten. Entscheidend ist dann nur noch, dass man Loyalität zur eigenen Gruppe demonstriert.

Walter Lippmann stellte einst fest, dass politische Propaganda zwar den Vorteil habe, die Öffentlichkeit bei Konflikten zu mobilisieren, jedoch den Nachteil, dass sie einen tragfähigen Frieden verhindert. Wenn eine Öffentlichkeit davon überzeugt wurde, sich in einem Kampf zwischen Gut und Böse zu befinden, wie soll sie dann ein gegenseitiges Verständnis oder Kompromisse akzeptieren? Die von Propaganda durchdrungene Öffentlichkeit gelangt zu dem Schluss, dass ein Frieden nur durch einen Sieg des Guten über das Böse erreicht werden kann. In nahezu jedem Konflikt und Krieg des Westens wird der Gegner als Reinkarnation Hitlers dargestellt. Das politische und mediale Establishment des Westens lebt somit dauerhaft in den 1930er-Jahren: Verhandlungen gelten als Appeasement; Krieg ist Frieden. Das ist zutiefst problematisch, denn der erste Schritt zur Verminderung sicherheitspolitischer Spannungen besteht darin, gegenseitige Sicherheitsinteressen anzuerkennen.

Carl Schmitt, der Staatsrechtler der NSDAP, argumentierte, dass die Organisation von Politik entlang des Freund-Feind-Schemas es einer Regierung ermögliche, abweichende Meinungen zu eliminieren. Schmitts Konzept des „inneren Feindes“ stärkt die politische Einheit, indem es jene ausgrenzt, die keine Loyalität zur eigenen Gruppe zeigen und sich nicht dem Glauben und Verhalten der vorgegebenen sozialen Ordnung anpassen.

„Der Norweger“ hat nun ein Jahrzehnt ununterbrochener Obsession mit dem Russiagate-Schwindel, mit Covid und schließlich mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine erlebt. Die ständige Angst und die Suche nach inneren Feinden hat das rationale Individuum erschöpft. Inzwischen haben wir unser kritisches Denken an den Staat delegiert und finden Trost in Orwells Zwei-Minuten-Hass, in dem wir uns gemeinsam mit den von den Medien geschürten moralischen Empörungen gegen die Feinde des Staates vereinen. Die moralische Empörung schenkt Sicherheit, Sinn und Zusammenhalt.

Dieses Problem breitet sich in ganz Europa aus. In Frankreich wurde die führende Oppositionspolitikerin vom Gericht verurteilt, was wie politisch motiviert wirkt. In Deutschland wurde die größte Oppositionspartei als „gesichert extremistische Organisation“ eingestuft, was es den Geheimdiensten ermöglicht, ihre Mitglieder unter Beobachtung zu stellen. Die Einstufung der AfD als „ extremistisch“ ist wahrscheinlich auch ein erster Schritt, sie zu verbieten. In Rumänien wurden die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl für ungültig erklärt, während der Sieger dieser Wahl nicht erneut antreten durfte. Im Vorfeld der Wiederholung dieser Wahl wurden Frankreich und die EU beschuldigt, Einfluss genommen zu haben, um sicherzustellen, dass die Rumänen nicht wieder „falsch“ wählen. Auch in Moldawien und Georgien wurde unter dem Banner des „Schutzes der Demokratie vor Russland“ in Wahlprozesse eingegriffen.

Ironischerweise beruht der innere Zusammenhalt des Westens als „liberale demokratische Gemeinschaft“ zu einem großen Teil auf dem „russischen Anderen“, das als Schreckgespenst dient und so den Prozess des Gruppendenken in Gang setzt, was wiederum den liberalen Charakter des Westens untergräbt.

Menschen neigen dazu, Gemeinsamkeiten mit der eigenen Gruppe zu übertreiben und Unterschiede zur fremden Gruppe zu dramatisieren. Der Norweger blickt – zumindest im Vergleich zum eigenen Land – mit einer gewissen Verachtung auf die USA, besonders dann, wenn dort „falsch“ gewählt wurde. Der Norweger kann zum Beispiel nicht verstehen, warum US-Amerikaner Donald Trump gewählt haben. Das liegt daran, dass der Norweger gar nicht weiß, warum US-Amerikaner Trump gewählt haben, da die norwegischen Medien wie ein Wahlkampfteam für Joe Biden und Kamala Harris gearbeitet haben. 

Es ist üblich geworden, US-Amerikaner als dumm und aggressiv darzustellen und nicht selten wurde unter der Präsidentschaft von Trump der Begriff Faschismus bemüht. Doch sobald es zum Thema Russland kommt, wird der US-Amerikaner als Teil der eigenen Gruppe wahrgenommen. Im einfachen Schema von Gut und Böse mutiert der US-Amerikaner dann zum „Guten“. 

Die USA verfolgen eine Sicherheitsstrategie globaler Vorherrschaft, dennoch steht der Norweger dem Argument skeptisch gegenüber, wonach es bei der Strategie der USA nicht primär um liberale Werte geht. In der Folge gilt die NATO als eine „Kraft des Guten“ – und wer das hinterfragt, beabsichtigt demnach Zwietracht zu säen und die nationale Tugendhaftigkeit zu untergraben.

Laut dem Norweger hat die NATO 20 Jahre lang Afghanistan besetzt – eine strategisch wichtige Region in Zentralasien –, nur damit kleine Mädchen wieder zur Schule gehen durften. Libyen und Syrien wurden im Namen der Menschenrechte zerstört, und die Expansion des atlantischen Militärbündnisses dient ausschließlich dem Schutz anderer Völker. Auch könne Moskau unmöglich glauben, dass die USA Russland jemals angreifen würden – obwohl wir uns gerade in einem Stellvertreterkrieg gegen Russland befinden und ständig über mögliche Kriege gegen den Iran oder China sprechen.

Der Norweger bezeichnet die NATO als Verteidigungsbündnis, selbst nachdem es Länder bombardiert hat, die niemals ein Mitglied der NATO bedroht haben. Führende NATO-Staaten sind derzeit mitschuldig am Völkermord in Gaza. Und doch ist die gutmütige, liberale demokratische Identität, die der Norweger sich selbst zugeschrieben hat, gegen diese Realität immun. Wer den Westen kritisiert, tut das nicht, um einen Kurswechsel anzumahnen, sondern weil er auf der Seite des Feindes steht.

Der Norweger als moralischer und liberaler Autoritärer

Der Liberalismus ist bekannt dafür, einen inneren Widerspruch in sich zu tragen, der verwaltet werden muss. Einerseits basiert der Liberalismus auf Toleranz, um das Recht des Individuums zu bewahren, sich von der Gruppe zu unterscheiden. Andererseits beruht er auf dem universellen Anspruch, dass alle Gesellschaften sich den liberalen Idealen anpassen sollen.

Der Norweger akzeptiert, dass alle Menschen unterschiedlich sind und toleriert Vielfalt. Dennoch betrachtet er seine eigenen liberalen Überzeugungen als universell und in Norwegen als weit höher entwickelt als anderswo. Daher müssen auch andere diesem Weg folgen. Alle sind gleich, aber manche sind gleicher als andere.

Der Norweger hat liberale Prinzipien wie Masseneinwanderung, radikalen Säkularismus, die Ehe für alle, Genderideologie und „humanitäre Kriege“ übernommen – und wird jeden sozial ausgrenzen und medial vernichten, der diese Überzeugungen nicht teilt. So war es zum Beispiel vor 15 Jahren noch eine akzeptierte Meinung, dass eine Ehe zwischen Mann und Frau besteht – heute gilt das als intolerant, und für Intoleranz gibt es keine Toleranz.

Der norwegische Politiker mag keine Ahnung von China haben, einem Land mit tausenden Jahren Geschichte und 1,4 Milliarden Einwohnern, doch besitzt er erstaunliches Selbstvertrauen darin, genau zu wissen, wie China regiert werden sollte.

Der Norweger wurde darauf konditioniert, in der Sprache der Moral zu sprechen, um sachliche Diskussionen im Keim zu ersticken. Wer alle eigenen Argumente moralisch einrahmt, unterstellt seinen Gegnern automatisch Unmoral. Kritische und offene Debatten leiden darunter, denn rationale Argumente und Nuancen werden durch moralische Selbstgerechtigkeit und Verurteilungen ersetzt.

Der Ukraine helfen“

Das unumstößliche Gut-gegen-Böse-Narrativ lautet: Die norwegische Regierung steht auf der Seite der Ukraine, sie ist „pro-ukrainisch“, sie „unterstützt“ und „hilft“ der Ukraine. Im Gegensatz dazu gelten Dissidenten wie ich, die es wagen, die Politik der Regierung kritisieren, als „anti-ukrainisch“, als Unterstützer oder Fürsprecher des russischen Einmarsches, als Verbündete Russlands. Für den Norweger ist selbst eine demokratische Debatte zwischen diesen beiden Positionen moralisch abstoßend, da dadurch russischer Propaganda eine Plattform geboten wird.

Ich entgegne diesem falschen Narrativ gewöhnlich, indem ich argumentiere, dass die „Hilfe“ der NATO unter anderem darin bestand, 2014 den Sturz der ukrainischen Regierung unterstützt zu haben, was weder von der Mehrheit der Ukrainer noch von der Verfassung getragen wurde. Das geschah weitgehend, um der Ukraine den Weg in die NATO zu ebnen, obwohl 2014 nur etwa 20 Prozent der Ukrainer einen NATO-Beitritt bejahten. Die USA „halfen“ dann, indem sie Schlüsselpositionen in der neuen ukrainischen Regierung übernahmen und die Geheimdienste der Ukraine ab dem ersten Tag nach dem Machtwechsel als Verbündete gegen Russland neu aufbauten.

Als 2019 ganze 73 Prozent der Ukrainer bei den Präsidentschaftswahlen für die Friedensplattform von Wladimir Selensky gestimmt haben, „half“ die NATO, dieses demokratische Friedensmandat zu untergraben indem man Frieden mit Russland das Label „Kapitulation“ anheftete. Nationalisten, unterstützt durch die „NGO“ Ukraine Crisis Media Center, definierten „rote Linien“, die Selensky nicht überschreiten durfte. Selensky wurde wiederholt und öffentlich mit dem Tod bedroht, falls er diese roten Linien übertreten sollte, woraufhin er seinen Friedenskurs schließlich aufgab. Mehrere westliche Regierungen, darunter auch die norwegische, finanzierten diese sogenannte NGO.

Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass der Westen die Istanbuler Friedensverhandlungen im April 2022 sabotiert und stattdessen auf einen langen Krieg gesetzt hat, den die Ukrainer kämpfen sollten, um so Russland zu schwächen. Dennoch wird der Stellvertreterkrieg unter dem Banner geführt, ausschließlich der Ukraine zu „helfen“. Eine Kritik an der Behauptung, dass die NATO, das größte Militärbündnis der Welt und ein zentrales Instrument der globalen US-Hegemonie, der Ukraine uneigennützig helfe, stellt einen Tabubruch dar. Jeder, der dieses Narrativ infrage stellt, wird mit Angriffen überzogen und der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt.

Um dieses Gruppendenken zu kontrollieren, übernehmen „demokratische Institutionen“ wie staatlich finanzierte NGOs die Aufgabe, die Massen zu lenken. Das vom norwegischen Staat finanzierte Norwegische Helsinki-Komitee, eine weitere „Nichtregierungsorganisation“, wird auch von der US-Regierung und dem National Endowment for Democracy (NED) unterstützt. Ronald Reagan und der damalige CIA-Direktor gründeten die NED 1983 als angebliche „Menschenrechtsorganisation“, um die Zivilgesellschaft in anderen Ländern zu beeinflussen. Sie ist das ideale Propagandainstrument, da sich damit globale Machtinteressen und die daraus folgenden Konflikte als moralischer Kampf zwischen Gut und Böse verkaufen lassen.

Das Norwegische Helsinki-Komitee veröffentlicht regelmäßig Schmähartikel über mich und verleumdet mich in sozialen Medien ununterbrochen als Putin-Propagandisten. Es versucht, Einladungen für Reden zu verhindern und drängt auf meine Entlassung, indem es meine Universität öffentlich anprangert, weil sie mir akademische Referenzen gegeben hat, die ich angeblich missbrauche, um Propaganda zu verbreiten. 

Dazu gehören auch Anrufe und Briefe an die Universität. Ich muss meine Privatadresse und Telefonnummer geheim halten, weil der Öffentlichkeit regelmäßig mitgeteilt wird, ich sei „anti-ukrainisch“, während ein Mitarbeiter dieser „Menschenrechtsorganisation“ ein Bild der Anzeige für den Verkauf meines Hauses in sozialen Medien veröffentlichte. Die Leiterin dieser NGO, die sich seit über vier Jahren bemüht, mich zu verleumden, einzuschüchtern, zu zensieren und zum schweigen zu bringen, erklärte in den Medien, das sei lediglich eine „nette Geste“ gewesen, um mir beim Verkauf meines Hauses zu helfen. Als ich diese Einschüchterungen mit den Methoden der Braunhemden an Universitäten verglich, bestand der Skandal darin, dass ich diese „demokratische Institution“ mit den Braunhemden verglichen habe.

Der Norweger als Soziopath

Das rationale Individuum ist humanistisch, doch das kollektive Bewusstsein des Norwegers hat die Züge eines Soziopathen angenommen, denn es fehlt ihm an Empathie, er neigt chronisch zur Lüge und Täuschung, zur Aggression und Verantwortungslosigkeit und er zeigt keinerlei Reue oder Einsicht.

Der Norweger wird dazu erzogen, Empathie für Afghanen zu zeigen, wenn es die Besatzung rechtfertigt, für Syrer, wenn es den Regimechange legitimiert, für Libyer, wenn es einen militärischen Eingriff berechtigt, aber sobald das strategische Ziel erreicht ist, verschwindet jedes Mitgefühl. Nachdem Tod und Zerstörung hinterlassen wurden, gibt es keine Reue, schließlich waren die Absichten dahinter ja gut.

Im Fall der Ukraine soll der Norweger große Empathie zeigen, solange es darum geht, die Kriegsanstrengungen gegen Russland voranzutreiben. Doch wer das Leid der Menschen im Donbass der vergangenen zehn Jahre erwähnt, Zwangsrekrutierungen auf den Straßen ukrainischer Städte und aus Wohnungen, die Angriffe auf die Medien, die Verweigerung politischer, sprachlicher, kultureller oder religiöser Rechte, dem begegnet der Norweger mit Misstrauen und Zorn. Das Mitgefühl für Ukrainer ist instrumentell, denn es wird je nach Zweck erweckt oder unterdrückt.

Ukrainer, die gegen Russland kämpfen wollen, dominieren die Schlagzeilen. Doch Ukrainer wie die ehemalige, vom Westen unterstützte Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko, verschwinden aus den Medien, sobald sie dem Westen vorwerfen, die Ukrainer zur Schwächung Russlands zu benutzen. Ukrainer, die nicht bereit sind, „bis zum letzten Mann“ zu kämpfen, gelten als verdächtig und sollen nicht im Namen ihres Landes sprechen dürfen. Das Narrativ muss vor Fakten geschützt werden – und im „guten Kampf“ gilt es als tugendhaft, zu lügen und zu täuschen. Verantwortungslosigkeit wird inzwischen als Prinzipientreue umgedeutet, etwa, wenn Russlands nukleare Abschreckung als inakzeptable „nukleare Erpressung“ bezeichnet wird, die kategorisch abzulehnen sei. Darauf zu beharren, einen aussichtslosen Krieg weiterzuführen, in dem die Ukraine täglich Männer und Territorium verliert, gilt als „pro-ukrainisch“. denn die Alternative wäre ein russischer Sieg, also „pro-russisch“.

Je tiefer der Glaube an die moralische Überlegenheit der eigenen Sache, desto leichter fällt es, den Krieg zu lieben, der ihr dient.

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Glenn Diesen ist Professor an der Universität von Südost Norwegen und Redakteur des Journals Russia in Global Affairs. Die Schwerpunkte seiner Forschung liegen in den Themen der Geoökonomie, des Konservatismus, der russische Außenpolitik und Groß-Eurasien. Man kann ihm auf X unter @Glenn_Diesen folgen.

Ende der Übersetzung

Autor: Anti-Spiegel

Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.