Lebensabend


5.6.22


Eigentlich ist diese Website lebenskunstwerkstatt-ruhr entstanden, weil ich mich sehr mit dem Thema „Gelingendes Alter(n)“ beschäftigt hatte und der Frage nachgegangen bin, was man darunter verstehen kann und mit welchen Themen man im Alter konfrontiert wird, z. B. Verluste, und wie man damit „erfolgreich“ umgehen kann. Ich wollte vorstellen, wie man mit kreativen Mitteln sich selbst seiner Fragen bewusst wird, Ursprünge in der eigenen Biografie (Prägungen) entdecken kann, um im Alter ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sich mit Gelassenheit der Frage der Endlichkeit stellen kann.


Wenn ich mich damit nicht beschäftigt hätte, wüsste ich nicht, wie ich jetzt, in meinem Alter, mit der aktuellen Situation umgehen sollte. Mein Lebensabend ist umstellt von Angst machenden Themen: Krankheit, Krieg und seine Folgen, einschränkende Regeln und Masken. Ja, die Masken bzw. die unhinterfragte Bereitwilligkeit sie zu tragen und Mitmenschen aufzufordern, es ihnen gleich zu tun, macht mir Angst. Es ist eine Untertanenhaltung, die durch Angst erzeugt wird.

Rainer Mausfeld hat ein ganzes Buch über „Angst und Macht“ geschrieben. Wir selbst müssten aber aus unserer Geschichte wissen, wozu eine Untertanenhaltung unsere Eltern und Großeltern gebracht hat bzw. welches Leben es ihnen beschert hat. Oft wird von der nachfolgenden Generation gefragt, wie man sich selbst wohl unter den Bedingungen von Damals verhalten hätte. Meine Antwort: Genauso wie es jetzt geschieht!

Wie kann es sein, dass Menschen abgelehnt, disqualifiziert werden, weil sie eine andere Wahrnehmung der Wirklichkeit haben? Warum will man davon erst gar nichts wissen? Was spielt sich da im Innern auf beiden Seiten ab?

Die Angst vor dem Virus wurde von Anfang an moralisch und emotional getriggert. Von Verantwortung und Solidarität wurde gesprochen. Ich bin kein Soziologe, aber ich frage mich, ob eine Gesellschaft, die von Kindesbeinen an auf Leistung und Wettbewerb (Jeder ist seines Glückes Schmied) getrimmt wird, besonders anfällig für eine emotionale Ansprache ist, für die Aussicht auf ein Gruppengefühl, auf Zugehörigkeit, kein Einzelkämpfer mehr zu sein? Oder ob sie unbewusst noch immer gute Zensuren anstrebt?

Ich weiß es nicht. Das sollte jeder für sich und bei sich erforschen. Denn dieses Anliegen, das ein wesentlicher Punkt bei meinem Thema „Gelingendes Altern“ war, hat weiterhin Bestand: Wir sind auf der Welt um Bewusstsein und Selbstbewusstheit zu erlangen, so wie es Wolf Büntig mal formulierte.

Zu diesem Thema sind wir heute in besonderem Maße herausgefordert!

Vor allem zu unseren moralischen Maßstäben, die eng mit unserem Selbstgefühl verbunden sind: Wir sind die moralisch besseren Menschen, weil wir auf die vulnerablen Gruppen Rücksicht nehmen. Das wir dabei nicht respektvoll mit ihren Bedürfnissen umgehen – egal. Wir sind die moralisch besseren Menschen, weil wir Abstand halten, uns an Regeln halten, in den Ellbogen husten und Masken tragen. Ach natürlich – und uns „impfen“ lassen. Brauchen wir diese moralische Selbst-Aufwertung?

Und jetzt hat das Ganze auch noch eine globale Form angenommen. Wir sind die Guten! Was lange vorbereitet ist und noch anscheinend geschlummert hatte, tritt auf einmal mit einer ungeahnten Wirkung hervor: Wir sind die Guten! Wir haben einen Feind! Wir Guten im Westen müssen Aufrüsten und gegen das Böse im Osten kämpfen! Mit schweren Waffen!


Das alles widerspricht meiner pazifistischen Grundhaltung.


Aber vor allem fordert diese allgemeine Stimmung unser Bewusstsein heraus. Damit meine ich, dass jeder mal innehalten sollte und sich selbst ein paar Fragen stellen sollte. Was habe ich mit der Ukraine zu tun? Warum habe ich mich nicht genauso über die Kriege in Syrien oder im Jemen empört? Wieso kann jemand wie Biden, der in seinen verschiedenen politischen Positionen gleich an mehreren Kriegen maßgeblich beteiligt war, Putin einen Mörder nennen? Was juckt es mich, ob es in Russland Meinungsfreiheit gibt? Und ganz wichtig: warum lasse ich mich von Stimmungen, die mir in sogenannten Nachrichten vermittelt werden, mitreißen?

In dem ich das schreibe, wird mir bewusst, dass ich mir durch die Beschäftigung mit Rainer Mausfeld einen Schutzwall vor Manipulation errichtet habe. Denn wir haben es mit Manipulation zu tun. Ich wollte mehr darüber wissen und habe mir die aktualisierte Ausgabe von „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst“ von Alfred Müller gekauft. In seinem Buch benennt er 18 Methoden der Manipulation. Er geht auf viele Beispiele aus der Vergangenheit ein, aber in der Neuauflage werden auch aktuelle Ereignisse berücksichtigt. 

Glaube wenig......

Für mich war besonders interessant, dass er ausführlicher auf die Politik Willy Brandts eingegangen ist. Das hat bei mir eine wichtige Erinnerung geweckt, die ich ohne dieses Anstoßes wahrscheinlich nicht hätte abrufen können. Ich erinnere mich, dass bei mir zuhause Willy Brandt wegen seiner Friedenspolitik, Wandel durch Annäherung, sehr verehrt wurde, wie auch für seine soziale Politik. Er war der Beste. Wenn von ihm gesprochen wurde, schwang Begeisterung mit und Hoffnung auf eine bessere Welt. So empfinde ich das heute im Nachklang.

Das ist für mein aktuelles Selbstgefühl sehr wichtig. Ich erlebe Kontinuität, also einen „roten Faden“ von den Prägungen in meiner Ursprungsfamilie bis zu meiner heutigen Einstellung und empfinde damit auch Kohärenz, also das passt logisch zu mir und hat einen Sinn. Das bestärkt mich und gibt mir Sicherheit. In einer Zeit, in der es eigentlich keine positiven Ausblicke gibt, ist das ausgesprochen gesund!

Ich bin schon davon überzeugt, dass Entwicklung und Lernen bis zum Lebensende geschehen sollte. Aber doch im Jungschen Sinne: hin zu sich selbst (Individuation). In einer chassidischen Legende, die Martin Buber überliefert, wird ein gewisser Sussja am Ende seines Lebens nicht gefragt, warum er nicht Moses gewesen, sondern, warum er nicht Sussja gewesen ist.

Es gibt mir ein ausgesprochen gutes Gefühl, dass ich anscheinend mir selbst treu geblieben bin. Es geht um die Haltung, die man grundsätzlich hat. Im Einzelnen ist sie mir nicht immer bewusst oder spontan abrufbar und in Worte zu fassen. Deshalb bin ich Eugen Drewermann zutiefst dankbar für seine Reden gegen Krieg und für den Frieden. Auf die in Zürich habe ich schon hingewiesen. Besonders finde ich auch die, die er bei dem Kongress in Berlin „Ohne Nato leben – Ideen zum Frieden“ gehalten hat. Ich schließe mich seinen Worten an. Mehr weiß ich nicht zu sagen.

Vielleicht doch noch, dass ich mir an meinem Lebensabend wünsche, dass Menschen lernen sich selbst zu hinterfragen, Gründe ihrer Angst erforschen sowie ihres Verhaltens und Denkens. Leider ist man damit nie fertig. Da bin ich mir sicher.

Eugen Drewermann: Rede gegen den Krieg

https://www.youtube.com/watch?v=0yUMuRiqiOY